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Archiv der Zukunft: "Lernen ist die Vorfreude der Kinder auf sich selbst"

Reinhard Kahl, Initiator des Netzwerkes "Archiv der Zukunft", über den Status frühkindlicher Bildung, die Anerkennung von Erzieherinnen und warum Kitas als Bildungsort gesehen werden sollten.

Was elitär klingt, ist alles andere als das: Das Netzwerk "Archiv der Zukunft" ist ganzheitlich orientiert und vor allem mit dem Herzen dabei, wenn es um kleine und pubertierende Menschen, um Pädagoginnen und Pädagogen und um das große Thema Bildung geht.

Schulerneuerer, Lernaufwiegler und Bildungsreformer
Reinhard Kahl, Initiator des Netzwerkes "Archiv der Zukunft", im bibernetz-Interview über den "2. Kongress der Schulerneuerer, Lernaufwiegler und Bildungsreformer", der im Oktober 2008 stattfand. Reinhard Kahl, Jahrgang 1948, arbeitet als Journalist, Autor, Regisseur und Produzent von Fernseh- und Videodokumentationen.

Reinhard Kahl im Gespräch mit bibernetz

bibernetz: Herr Kahl, Sie sind unter anderem als Filmemacher bekannt, der sich vor allem um Schul-Themen kümmert. Ihr jüngster Film "Kinder!" beschäftigt sich mit dem Lerngenie der Kinder. Gehen Sie zurück an die Wurzeln?

Reinhard Kahl: Mein Thema ist der lernende Mensch. Und dass ich mich nun mit jüngeren Kindern beschäftige, scheint mir folgerichtig zu sein. Ich glaube, es ist eine nachzuholende Lektion in Deutschland, wie folgenreich die  ersten Lebensjahre sind. Krippen und Kitas sollen keine Betreuungsorte sein, sondern Bildungsorte. Dort prägen sich Individuen.

bibernetz: Wird das Thema frühkindliche Bildung auf dem Kongress vertreten sein?

Reinhard Kahl: Ja, der zweite Treibhäuser-Kongress trägt den Titel "Herausforderungen". Es geht um die frühen Jahre – das ist die erste Chance. Dann um die Pubertät – das ist die zweite Chance. Und dann gibt es etwas Drittes, das klingt vielleicht etwas geheimnisvoll: Das Zwischen. Das betrifft die Choreographie des Lernens, die Art wie Räume aussehen, wie die Zeiten rhythmisiert werden, all das Atmosphärische, das so schwer zu fassen, aber eigentlich das Entscheidende beim Lernen ist.

bibernetz: Wer trifft sich dort beim Kongress? Wie läuft der Austausch?

Reinhard Kahl: Hartmut von Hentig, der Nestor der Reformpädagogen, ist wieder dabei. Es kommen Neurobiologen wie Gerald Hüther, der dänische Autor und Therapeut Jesper Juul, die Schulleiterinnen Enja Riegel und Ulrike Kegler sowie der Künstler Royston Maldoom, bekannt als Choreograph aus dem Film "Rhythm Is It!". Es wird jede Menge Gelegenheiten zum Austausch in Workshops und Klausuren geben. Die rund 1500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer - ob Erzieherinnen, Lehrer, Wissenschaftler, Architekten oder Hirnforscher - haben sich viel zu erzählen. Wenn sie damit anfangen, werden sie immer neugieriger aufeinander. Der Kongress verteilt sich nach dem Einführungstag im Festspielhaus Bregenz auf zwölf Orte rund um den Bodensee zu Klausuren, in denen intensiv gearbeitet und diskutiert wird. Es sind noch ein paar Plätze frei.

bibernetz: Was möchten Sie erreichen, wie sehen Ihre Visionen aus?

Reinhard Kahl: Der Blick auf Individuen ist wichtiger als der auf Institutionen. In einer Formel: Pädagogen muss klar werden, dass sie Kinder unterrichten und nicht Fächer. Lernen sollte eine Vorfreude der Kinder auf sich selbst sein. Der schlechte Atem menschenfeindlicher Pädagogik soll verbannt werden. Und Bildungspolitik sollte eine Atmosphärenpolitik werden. Das Ziel wäre, dass in Schulen, Kitas und anderen Bildungseinrichtungen Lebenserfahrene und Lebenshungrige zusammenarbeiten.

Kinder mit einer WeltkugelKind betrachtet Blattläuse mit einer Handlupe
Kinder erforschen die Welt.
 
Studienobjekt: Blattläuse
 

bibernetz: Was bedeuten diese Ideen für den Erzieherberuf? Muss der professionalisiert werden? Akademisiert gar?

Reinhard Kahl: Ein akademischer Abschluss wäre gut, ist aber nicht das Wichtigste. Wichtig ist, dass dem Beruf Anerkennung entgegengebracht wird - unter anderem auch durch bessere Bezahlung, die wiederum eher stattfindet, wenn ein akademischer Abschluss vorliegt. Die Geldwährung ist natürlich wichtig, aber Geld alleine schafft keine Anerkennung. Ich wünsche mir Erwachsene im Bildungsbereich, die lebendige Vorbilder sind. Die sagen, "Seht her, das ist unsere Welt und wir machen etwas daraus". Menschen, die vielleicht selbst im Leben mäandert sind; vielleicht sogar an irgendetwas gescheitert. Die zulassen, dass auch mal etwas schief geht. Ich arbeite gerade in Stuttgart und bin eben am Bahnhof vorbei gekommen. An dem ist als Kunst am Bau ein Satz von Hegel angebracht: "Die Furcht sich zu irren, ist der Irrtum selbst". Es kann nur etwas gelingen, wenn auch etwas schief gehen darf.

bibernetz: Das klingt nach Kuschelpädagogik ...

Reinhard Kahl: Überhaupt nicht. Scheitern ist kein Kuscheln. Aber es darf nicht verfolgt werden. Verständnis und das durchaus warmherzige Annehmen die Eigenheiten und der Unzulänglichkeiten von Kindern und Jugendlichen bedeutet nicht, dass man sie nicht auch fordert. Aber Lehrerinnen und Lehrer können von Schülerinnen und Schülern nur etwas fordern, wenn sie glauben, dass etwas Gutes in ihnen steckt. Wenn Erwachsene meinen, in den Köpfen der Kinder sei vor allem Stroh, dann kann man nichts herausfordern, dann wird man ihnen beweisen, dass sie nichts können. Das findet leider häufig statt. Meine Vorstellung von Pädagogik mutet Kindern und Jugendlichen etwas zu. Sie sagt ihnen, ihr könnt eigentlich viel mehr als ihr glaubt. Schulen sollten die Kinder und Jugendlichen in die Welt einladen. Sie müssen ihnen Vertrauen und Zutrauen geben.

bibernetz: Das können Lehrkräfte, die sich als Opfer von Lehrplänen und Sparmaßnahmen sehen, kaum leisten.

Reinhard Kahl: Ja, auch die Lehrkräfte müssen sich mehr zutrauen. Wenn Lehrer sich auf ihren Lehrplan berufen und den Kindern und Jugendlichen gegenüber auftreten wie Untermieter in der Welt, in der sie selbst nicht handeln, dann können sie reden und durchnehmen, was sie wollen, dann wird dieser Untermieterhabitus die Lektion ihres Unterrichts sein.

bibernetz: Sind Sie zuversichtlich, dass sich das ändert?

Reinhard Kahl: Das mag mit der Vorbereitung des Kongresses zu tun haben - aber ich spüre eine Welle von Veränderungsbereitschaft, ein Erstarken der reformwilligen Pädagogen. So verstehe ich auch unsere Netzwerkarbeit: Die, die etwas wollen, stärker machen. Allein ist man immer verraten.

bibernetz: Zurück zum Kongress. Blicken Sie auf europäische Nachbarländer auf der Suche nach guten Ideen?

Reinhard Kahl: Wenn wir schon im schönen Bregenz sind, lohnt sich der Blick auf die Schweiz. Im Schweizer Kanton St. Gallen gibt es zum Beispiel die Primaria, die Kindergarten und Schule nicht trennt.  Sie versteht sich als Lernort, der Frei- und Spielraum bietet, an dem sich Kinder den eigenen Bedürfnissen entsprechend ganzheitlich entwickeln können. Die Primaria bietet Kindern von vier bis 11 oder 12 Jahren ein anregendes, entspanntes Umfeld, in dem sie, ihren Entwicklungsbedürfnissen entsprechend, ihre Tätigkeiten frei wählen können. Jedes Kind hat seinen Lehrplan, sein eigenes Entwicklungstempo. Dort müssen keine kleinen Schülerbeamten ran. Die Primaria ist eine private Einrichtung. Aber die  Basisstufe in der Schweiz, in der zwei Jahre Vorschule und zwei Jahre Primarschule zusammen kommen, wird jetzt überall eingeführt.

bibernetz: In Deutschland gibt es ähnliche Versuche, Stichwort Bildungshäuser.

Reinhard Kahl: Ja, auch bei uns steht ein "Paradigmenwechsel" an. In den oftmals noch grauen Belehrungsanstalten sollte endlich Lernfreude aufkommen – nicht zuletzt, um die Lust an Leistung herauszufordern. Denn Lust und Leistung gehen ja im herkömmlichen Pädagogenskript nicht unbedingt zusammen. Aber das ändert sich.