"Inklusion bedeutet, Hürden aufzuspüren"
An der Heinrich-Zille-Grundschule in Berlin-Kreuzberg lernen Kinder mit und ohne Förderbedarf seit mehr als 20 Jahren zusammen. Bei den Eltern im Kiez ist die Schule äußerst beliebt. Ihre Direktorin Inge Hirschmann setzt sich dafür ein, dass die gute Qualität der Betreuung auch bei wachsendem Förderbedarf und knappen staatlichen Mitteln erhalten bleibt.
Gemeinsames Lernen
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Training der Feinmotorik |
Can kämpft mit Wäscheklammern. Wie seine Mitschülerinnen und Mitschüler der ersten Klasse soll er sie an einer Tafel befestigen, auf der Anlaute zu lesen sind. Sein Lernziel ist jedoch nicht, die Klammer vor den richtigen Anlaut zu setzen, sondern seine Handmotorik zu trainieren. Er ist geistig und körpermotorisch behindert. "Can weiß nicht, welche Buchstaben er anklammert", erklärt Inge Hirschmann, "aber er wollte die extra für ihn hergestellte Pappkarte in Form eines Igels nicht mehr nutzen, sondern mit dem gleichen Material arbeiten wie die anderen." Hirschmann ist Rektorin der Heinrich-Zille-Grundschule im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Rund 350 Kinder besuchen die Schule, etwa 60 Prozent sind nichtdeutscher Herkunft. Doch die Zille-Grundschule hat noch eine weitere Besonderheit. Seit über 20 Jahren lernen hier Kinder ohne Lernschwierigkeiten und solche mit Förderbedarf gemeinsam, zum einen sind sie körperlich oder geistig behindert oder sie leben in schwierigen familiären Verhältnissen. Etwa jedes sechste Kind hat Förderbedarf. "Inklusion heißt, Hürden aufzuspüren und aus dem Weg zu räumen, die verhindern, dass ein Kind in die Regelschule kommt", sagt Hirschmann. Und das seien nicht nur die Stufen für Rollstuhlfahrer, sondern auch die Barrieren in den Köpfen.
Schwerpunkt Theater
Ebenso wie der kleine Can bekommt jedes Kind seine individuellen Aufgaben und die Förderung, die es benötigt. Die Schule, die für ihr Konzept ausgezeichnet wurde, praktiziert verschiedene Ansätze. In Kleingruppen werden beispielsweise spielerisch Fertigkeiten gefördert, die fürs Lesen, Schreiben und Rechnen wichtig sind. Im heilpädagogischen Schwimmen werden psychomotorische Fähigkeiten geschult, ältere verhaltensauffällige Kinder lernen in einem werkpädagogischen Kurs ihre gestalterischen und kreativen Seiten kennen. Ein Schwerpunkt der Schule ist das Theaterspiel. Seit vielen Jahren wird in jedem Schuljahr eine große Theaterproduktion auf die Bühne gebracht. "Wir beziehen nicht nur theaterbesessene Kinder ein", betont Hirschmann. Neben dem Schauspiel könnten Kinder auch Kostüme und Bühnenbild gestalten oder bei Beleuchtung und Tontechnik helfen. "Man kann ganz viele Kinder, jüngere und ältere, mit und ohne Behinderung einbinden", schwärmt sie.
Engagierte Lehrerinnen und Lehrer
Zwei pädagogische Fachkräfte sind in den Klassen anwesend. Sie müssen als Team funktionieren. So ist eine flexible Gestaltung des Unterrichts möglich. Wird ein Kind für die Gruppe zur Belastung, weil es zum Beispiel zu laut ist, suchen sie nach Lösungen: ändern die Sitzkonstellation, ziehen sich mit dem Kind in einen Nebenraum zurück, beraten sich mit Kolleginnen und Kollegen. "Wer bei uns arbeitet, ist keine Beamtenseele, sondern pragmatisch und engagiert", sagt Hirschmann. Der Erfolg gibt der Zille-Schule Recht: Rund 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler erhalten in der sechsten Klasse eine Gymnasialempfehlung – für eine Schule in einem Brennpunkt-Kiez eine beachtliche Zahl. Die vielen Angebote der Schule und ihre aufgeschlossenen Pädagoginnen und Pädagogen haben zur Folge, dass auch viele bildungsnahe Eltern ihre Kinder anmelden.
Nötig sind mehr Personal und Rückzugsräume
Trotz des Erfolgs der Schule blickt die Schulleiterin nicht ohne Sorge in die Zukunft. "Es wird an der Ausstattung gespart, die zusätzlichen Lehrerstunden für Kinder mit Förderbedarf wurden in den letzten Jahren drastisch reduziert", sagt Hirschmann, die auch Vorsitzende des Grundschulverbands Berlin ist. Doch solange in Deutschland am Parallelsystem der Sonderschulen festgehalten werde, fehlen ausreichende Mittel, um Inklusion wirklich gut in den Regelschulen umzusetzen. "Die größte Herausforderung sind die verhaltensauffälligen Kinder – wenn die Ausstattung und die Unterstützung nicht da sind", sagt sie. Denn unter den derzeitigen Bedingungen könnten schwerstverhaltensauffällige Kinder nicht den ganzen Tag in großen Gruppen lernen: "Dafür sind mehr Personal und Rückzugsräume nötig." Vor allem die sozialen Brennpunkte müssten besser und dauerhaft mit sozialpädagogischen Angeboten wie Schülerclubs und Schulstationen ausgestattet werden.
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