Handbuch Mädchen-Pädagogik
Braucht es ein Handbuch Mädchen-Pädagogik? "Ja!", sagt das Herausgeber-Duo im Vorwort zur neuen Publikation in der Reihe Beltz Pädagogik. Die Adressaten von Erziehung sind keine geschlechtslosen "Kinder" und "Jugendlichen", sondern Mädchen und Jungen. Allen, die beruflich mit Mädchen und jungen Frauen zu tun hätten "sollte mädchenbezogenes Wissen zur Verfügung stehen, welches in die pädagogische Reflexion und Praxis einfließen kann".
"Dieses Wissen", so die Herausgeber weiter "kann aufgrund des Gegenstandsbereichs - des jungen weiblichen Menschen als bio-psycho-soziales Wesen - nur durch eine integrierende Zusammenschau der relevanten sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen generiert werden." Co-Herausgeber und Autor Dr. Michael Matzner arbeitet als Sozialpädagoge im Bereich der Jugendberufshilfe und als Lehrbeauftragter an der Universität und Pädagogischen Hochschule Heidelberg sowie der Fachhochschule Frankfurt/Main. Co-Herausgeberin und Autorin Dr. Irit Wyrobnik ist Erziehungswissenschaftlerin und Dozentin und vertritt ab Oktober 2010 eine Professur für Pädagogik der frühen Kindheit an der Fachhochschule Koblenz.
Den eigenen Interessen nachspüren
"Nicht zu viel nachdenken, nicht zu viel verbiegen, einfach mal die Natur sprechen lassen", den Auftakt zu der rund 400 Seiten umfassenden Publikation macht ein Interview mit der Nobelpreisträgerin Prof. Dr. Christiane Nüsslein-Volhard, Direktorin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen: "In sich hineinhorchen, was am meisten interessiert, was Ihnen die meiste Freude macht und Befriedigung gibt", lautet ihr Ratschlag für die Berufs- und Studienfachwahl junger Frauen. Die Christiane Nüsslein-Volhard Stiftung, die jungen Wissenschaftlerinnen durch finanzielle Zuschüsse die Kinderbetreuung erleichtert, gründete sie im Jahr 2004.
Verschiedene Zugänge zu geschlechtsbezogener Erziehungswissenschaft
Das Werk enthält ausgewählte und recht gleichgewichtige Beiträge von 28 namhaften Wissenschaftler/innen und Expert/innen. Dabei geht es im Einzelnen um die Themen:
| Sozialwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Voraussetzungen der Mädchenpädagogik |
| Mädchen in Kindergarten, Schule und Ausbildung |
| Mädchen und MINT - der mathematisch-naturwissenschaftlich-technische Bereich |
| Sozialpädagogische Angebote |
| Körper, Gesundheit und Bewegung |
| Schlussfolgerungen und Ausblick |
Mädchen oder Junge sein
Wie, wann und warum macht es einen Unterschied?
Mädchen haben durchschnittlich bessere sprachliche Fähigkeiten, sind bei visuell-räumlichen Aufgaben im Nachteil, haben in punkto Schulleistungen und Schulerfolg die Nase vorn und doch einen signifikant weniger positiven Selbstwert... - in unserer Gesellschaft unterscheiden sich Mädchen und Jungen, Frauen und Männer heute in vielerlei Hinsicht. Benennt man Unterschiede läuft man Gefahr sie als Rollenstereotype festzuschreiben. In der Forschung über Mädchensozialisation geht es darum, die realen sozialen Kontexte zu untersuchen, die diese Geschlechterpolaritäten hervorbringen. Während sich die Diskussion in der Bundesrepublik oft mit einer individualisierenden Sichtweise auf das "Doing Gender" verknüpfe, bemühe sich die einschlägige Forschung, so Prof. Dr. Carol Hageman-White (Osnabrück, i.R.), auf die "unausweichliche Einbindung der Individuen in das Soziale als die Bedingung ihrer Menschwerdung und ihrer Lebensfähigkeit" hinzuweisen.
Vorbilder und Erwartungshaltung üben großen Einfluss aus
Biologische Theorien seien nicht geeignet, die differenzielle Entwicklung von Leistungen und Interessen bei Mädchen und Jungen zu erklären, konstatiert Prof. Dr. Bettina Hannover (FU Berlin): "Eltern und pädagogisch Tätige müssen sich zuallererst über ihre eigenen geschlechtstypisierenden Erwartungen im Klaren werden, die sie möglicherweise auf subtile Weise an ihre Kinder beziehungsweise ihnen in pädagogischen Kontexten Anvertraute kommunizieren. Denn Erwartungen wirken wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen."
Handlungsbedarf im Bereich Mathematik
"Die Option für Schulmädchen auf die Teilhabe am mathematischen Unterricht besteht in Deutschland seit weniger als 100 Jahren. Die Vorurteile, die an diese späte Entwicklung gebunden sind, bestehen bis heute..." - wie die Frage nach den Rechenstrategien von Kindern im ersten Schuljahr die Hypothese der Konstruktion von Geschlechtsunterschieden stützt, zeigt Prof. Dr. Laura Martignon (PH Ludwigsburg) anhand der Kompetenzentwicklung beim Erstrechnen auf. Sie definiert maßgebliche Handlungsbedarfe und führt aus: "Unsere These ist aber auch, dass eine gute mathematische (Aus-)Bildung der Mädchen als Instrument von Emanzipation fungieren kann...".
Kinder haben ein Recht darauf, sich selbst zu bilden
Naturwissenschaften, Technikinteresse, Medien, Schule, Berufsorientierung, Erziehungshilfe, Hochbegabung, Mädchengesundheit, Sport, Sexualität und Gewalt ... - das Handbuch Mädchen-Pädagogik spannt den Bogen weit und liefert anhand der Autorenbeiträge eine Vielzahl wertvoller und vielschichtiger Einblicke. Interessant im Kontext von BIBER ist insbesondere auch der Beitrag von Co-Herausgeberin Wyrobnik. Sie mahnt die Integration von Geschlechterthemen in die Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen und Erziehern an, spricht sich aus für geschlechtsrollenerweiterte Spielangebote, den Blick über den Tellerrand in die europäischen Nachbarländer und empfiehlt einen gelassenen Umgang mit entwicklungsbedingten geschlechtsrollentypischen Spielen: "Kinder - Mädchen wie Jungen - verhalten sich in diesem Alter oft 'geschlechtsstereotyp' weil sie Orientierung brauchen und suchen. Kinder haben ein Recht darauf, sich selbst zu bilden...".
Kurzinformationen
Titel | Handbuch Mädchen-Pädagogik |
Herausgeber | Michael Matzner und Irit Wyrobnik |
Verlag | Beltz Verlag |
Erscheinungsjahr | 2010 |
ISBN | 978-3-407-83166-8 |
Umfang | 414 Seiten |
Preis | 39,90 Euro |
Fazit
Lesenswert, wenn auch nicht immer ganz einfach nachzuvollziehen
Wichtig, interessant, spannend, aber nicht immer leicht zu lesen und nachzuvollziehen: Wie sein Pendant und Vorgänger, das "Handbuch Jungen-Pädagogik" aus dem gleichen Verlag (1. Auflage 2008) folgt auch das "Handbuch Mädchen-Pädagogik" nicht der Brockhaus'schen Definition eines Handbuchs als ein zusammenfassendes Werk über ein wissenschaftliches Gebiet. Forschung ist pluralistisch: Übergangslos aufeinander folgend, ergeben sich Redundanzen und Widersprüche zwischen den Aussagen, Bewertungen, Ansätzen und Positionen einzelner Beiträge. Sie bleiben unkommentiert und werfen Fragen auf. So wird etwa unter "Schlussfolgerungen und Ausblick" notiert, die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie zähle nicht zu den zentralen Themen für die Berufsorientierung von Mädchen (Seite 384), während die Abschnittsüberschrift auf Seite 209 lautet: "Junge Frauen wählen 'Frauenberufe' aus Gründen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie...".
Die Erklärung der Fachbegriffe wäre hilfreich
Formal vermisst man ein Stichwortverzeichnis, ein Glossar wäre angeraten, sonst laufen Fachbegriffe Gefahr, zu Spekulationen einzuladen: Was verbirgt sich beispielsweise hinter dem Begriff "aktive Mutterschaft", schließt er die Beteiligung des Vaters aus? (Seite 392) Oder: Auf welcherlei Definitionen stützt sich die Behauptung, die Prinzipien der Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit seien sinnvoll, Gender-Mainstreaming jedoch nicht? (Seite 401)
Informationen zur Autorin
| Dr. Imke Troltenier ist freie Journalistin, Beraterin in Gender-Fragen und zuständig für die wissenschaftliche Begleitung zahlreicher Projekte im Kontext von Gender Mainstreaming. Als Wissenschaftlerin, Dozentin, Online-Redakteurin und Trainerin ist sie in wechselnden Teams und Kooperationen seit 1984 in diesem Themenfeld aktiv, verfügt über langjährige Praxiserfahrung im internationalen Projektmanagement und im Bereich der entsprechenden Politikfelder und Förderprogramme. |