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"Kinder profitieren außerordentlich von älteren Menschen"

Die alltägliche Begegnung mit älteren Menschen, wie sie Mehrgenerationenhäuser bieten, ist ein großer Gewinn für Kinder, sagt Gerald Hüther, Professor für Neurobiologe an der Uni Göttingen: "Weil Senioren Kinder nicht erziehen müssen, können sie ihnen eher das Gefühl grundsätzlicher Akzeptanz vermitteln. "

BIBER: Herr Professor Hüther, Sie haben einmal gesagt, Mehrgenerationenhäuser seien "Vorreiter in Sachen Kinderbetreuung". Was meinen Sie damit?

Gerald Hüther: Mehrgenerationenhäuser bieten einen Rahmen für Begegnungen und die wichtigste davon ist die zwischen alten und jungen Menschen. Seniorinnen und Senioren profitieren aus neurobiologischer Sicht auf unbezahlbare Weise vom Erleben mit Kindern und Jugendlichen. Umgekehrt profitieren Kinder außerordentlich von der Erfahrung, dass sie von älteren Menschen so angenommen werden, wie sie sind. Denn anders als die meisten anderen Erwachsenen im Leben von Kindern – Eltern, Erzieher und Lehrer – haben sie nicht die Aufgabe, Kinder auch erziehen zu müssen. Dieses Gefühl von grundsätzlicher Akzeptanz ist deshalb so wichtig, weil es die Voraussetzung dafür ist, dass Kinder von Erwachsenen etwas lernen wollen. Das afrikanische Sprichwort "Um Kinder gut groß zu ziehen, braucht man ein ganzes Dorf" fasst das gut zusammen. Und die wichtigsten Menschen in einem Dorf sind nun mal die älteren mit ihren vielen Erfahrungen.

BIBER: Weil Familien heute nicht mehr über Generationen an einem Ort leben, haben viele Kinder nur selten Umgang mit den eigenen Großeltern ...

Gerald Hüther: Wenn tatsächlich keine eigenen Großeltern in der Nähe leben, ist es ja auch möglich, ältere Menschen aus der Nachbarschaft als Großeltern zu entdecken. Vielen Eltern ist nicht bewusst, dass für Kinder nicht nur der Kontakt zu gleichaltrigen Freunden wichtig ist. Kinder können sich im Umgang mit älteren Menschen als sehr bedeutsam erleben, beispielsweise wenn sie die Zeitung vorlesen. Und dabei entdecken sie vielleicht sogar die Freude am Lesen – nicht wegen des Textes, sondern weil sie Bedeutsamkeit erfahren.

BIBER: Das meinen Sie damit, wenn sie sagen, für Kinder sei "weniger Schulbildung als sozialer, generationenübergreifender Austausch zentral"?

Gerald Hüther: Ja, eine gute Entwicklung basiert nicht vorrangig auf gelerntem Wissen, sondern vor allem auf Begeisterung und Erfahrungen, die Kinder machen. In unserem gegenwärtigen Schulsystem sind die Weichen dafür leider nicht sehr günstig gestellt. Schule ist bei uns eine Wissensvermittlungseinrichtung, die nach Lehrplänen versucht, Kindern etwas beizubringen. Deshalb verlieren Kinder sehr schnell die Entdeckerfreude und die Gestaltungslust, mit der sie mal auf die Welt gekommen sind.

BIBER: Wie sehen in Ihren Augen optimale Konzepte von Kinderbetreuung und Bildung aus?

Gerald Hüther: Ein gutes Beispiel dafür ist die Thüringer Initiative "Neue Lernkultur in Kommunen", deren Ziel es ist, Kitas und Schulen zu öffnen, für das, was in den Kommunen zu gestalten ist. In einer Kommune planen und bauen Kita- und Schulkinder beispielsweise gemeinsam einen Streichelzoo. Dabei trägt jeder auf seine Weise und mit seinen Fähigkeiten zum Gelingen bei. Die Kitakinder beschäftigen sich damit, welches Futter benötigt wird, und die älteren Schülerinnen und Schüler machen sich Gedanken über die Finanzierung. Dahinter steckt, was auch Kern der Mehrgenerationenhäuser ist: Menschen entfalten dann ihre Potenziale und erleben Unterschiede als positiv, wenn sie gemeinsam etwas entdecken, gestalten und Verantwortung übernehmen. Ich bin davon überzeugt, das ist das generelle Zukunftskonzept von Bildung für unsere Gesellschaft.

Zur Person

Prof. Gerald Hüther leitet die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. Wissenschaftlich befasst er sich mit dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, mit den Auswirkungen von Angst und Stress und der Bedeutung emotionaler Reaktionen. Gerald Hüther hat das Interdisziplinäre Netzwerk für Entwicklungs- und Bildungsforschung "Win-Future" mit gegründet.

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