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Qualität von Anfang an

Dr. Ilse Wehrmann liefert in diesem Artikel eine Bestandsaufnahme des Status der frühkindlichen Bildung in Deutschland. Dabei macht sie nicht nur auf Defizite und Versäumnisse aufmerksam, sondern skizziert auch die grundlegenden Eckpfeiler einer umfassenden Reform.

Späte Einsicht

Jahrzehntelange Versäumnisse

Unsere Gesellschaft hat Jahrzehnte lang den Blick für das Kind verloren – für seine Familie, seine Entwicklung, seine Bildungschancen. Das Ergebnis: Deutschland ist als Bildungsstandort im internationalen Vergleich abgeschlagen, andere Länder sind bereits an uns vorbeigezogen. Deshalb ist die Bildungsfrage eine Zukunftsfrage für unser Land.

Die Zeichen der Zeit erkennen
Diese Erkenntnis hat sich mittlerweile im politischen Feld durchgesetzt: Endlich hat die Politik das Kind, seine Entwicklung und seine Bildungschancen im Blick. Man hat erkannt, dass Bildung nicht erst mit dem Schuleintritt beginnt, sondern von Anfang an – streng genommen bereits von Geburt an. Doch wie schaut es mit der frühkindlichen Bildung in der Praxis aus? Wie sind ihre Perspektiven? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt zunächst ein Blick auf die Rahmenbedingungen für den Kita-Alltag in Deutschland.

Politische und strukturelle Rahmenbedingungen als Hemmschuh

Die Defizite im deutschen System der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung beginnen bei den politischen Rahmenbedingungen, die von einem "Zuständigkeitswirrwarr" und vom "Trägerlabyrinth" geprägt sind. Auch ein Blick auf die frühkindliche Bildung verheißt nichts Gutes. Zwar haben mittlerweile alle Bundesländer Bildungspläne entwickelt und vorgelegt, aber der Boden für die Implementierung dieser Pläne ist noch längst nicht bereitet, weil

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sie unserem föderalen System entsprechend asynchron und unkoordiniert nach Maßgabe jeweils unterschiedlicher Rahmenbedingungen verlaufen ist.

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ein länderübergreifender Bundes-Rahmenbildungsplan, der wie zum Beispiel in Norwegen, Schweden oder Australien verbindliche Rahmenvorgaben für die Bildungspläne der Länder vorgibt, fehlt.

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eine unabhängige Kontrollinstanz fehlt, die bundesweit die Kriterien für Qualitätsstandards für die Umsetzung von Bildungsplänen vorgibt und diese auch kontrolliert.

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auf Landesebene institutionsübergreifende Bildungspläne fehlen (mit Ausnahme von Hessen), die auf den Übergang vom Kindergarten zur Grundschule, das heißt auf die Altersgruppe von 0 bis zehn Jahren, angelegt sind.

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die Umsetzung der Bildungspläne letztlich vom Willen der Träger abhängt.

Qualifikation der Fachkräfte als grundsätzliches Problem

Das gravierendste Problem im Elementarbereich ist die Qualifikation der Fachkräfte - er stellt in Deutschland eine "akademikerfreie Zone" dar. Mit diesem Ausbildungsniveau ist eine Umsetzung von Bildungsplänen nicht möglich.

zwei Kinder mit Büchern; Quelle istockphoto/Ekaterina MonakhovaKinder forschen mit Lupe und Binokular.
Kinder erforschen die Welt: mit Büchern ...
 
... und mit Lupe und Binokular.
 

Problemzone frühkindliche Bildung

Schlechtes Imgage der Berufe im Elementarbereich

Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Mobilitätschancen und beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten: Ohne Hochschulausbildung können pädagogische Fachkräfte aus dem Elementarbereich selbst innerhalb Deutschlands nicht in die Primarstufe wechseln. Hinzu kommt das schlechte Image des Erzieherinnen- und Erzieherberufs, der nach wie vor mit "Kindergartentante", schlechter Bezahlung und dem Problem der "Erzieherinnendomäne" assoziiert wird. Kein Wunder, bei einem Anteil von 5,4 Prozent männlicher Erzieher im Westen und 3,6 Prozent im Osten Deutschlands.

Schattenseiten des Föderalismus

Auch hinsichtlich der Finanzierung des Elementarbereichs reiht sich Deutschland im internationalen Vergleich weit hinten ein. Es gibt nur 0,4 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die frühkindliche Erziehung, Bildung und Betreuung aus, der OECD-Durchschnitt liegt bei 0,6 Prozent. Ein Hauptproblem des Finanzierungssystems jedoch liegt darin, dass die Zukunft des Wissens- und Wirtschaftsstandorts Deutschland abhängig ist vom Willen der Träger und von der Finanzkraft der Kommunen beziehungsweise der Entscheidung von Bürgermeistern und Lokalpolitikern!

Unzureichende Versorgungslage

In der Angebotsstruktur und der Versorgungslage mit frühkindlichen Betreuungseinrichtungen ist es ebenfalls nicht zum Besten bestellt, vor allem im Krippen- und Hortbereich: Hier liegt insbesondere Westdeutschland im europäischen Vergleich weit abgeschlagen zurück. Auch bei den strukturellen Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen kann sich Deutschland im internationalen Vergleich hinten einreihen, beispielsweise mit einem Betreuungsschlüssel von mehr als 24 Kindern auf eine Erzieherin beziehungsweise einen Erzieher. Weiterhin muss sich das Augenmerk verstärkt auf die Qualität richten. Aufgrund der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz lag es bislang schwerpunktmäßig auf dem quantitativen Ausbau von Betreuungsplätzen, was oft zu Lasten der Qualität ging.

Eine fundierte Beratungskompetenz ist vonnöten!

Der Defizitkatalog ließe sich weiter fortführen. Hinzuweisen wäre abschließend noch auf die steigenden Ansprüche an eine fundierte Eltern- und Familienberatung, die angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität weit über Themen der elterlichen Erziehungskompetenz hinausgehen. Diesen Ansprüchen können die Kindertageseinrichtungen beziehungsweise die pädagogischen Fachkräfte unter den gegenwärtigen Bedingungen nur partiell gerecht werden.

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Ein neuer "Marshall-Plan"
Was also ist zu tun? Es ist dringend Zeit, dass die Politik den Ernst der Lage erkennt und dem Elementarbereich höchste Priorität zubilligt.

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Nur eine tiefgreifende Reform der frühkindlichen Betreuung kann gewährleisten, dass Deutschland im internationalen Vergleich konkurrenzfähig wird.

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Um beide Aspekte muss sich die zukünftige Erziehungspraxis intensiv bemühen, wenn sie dem Notstand im Elementarbereich sinnvoll begegnen will.

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Information zur Autorin

Dr. Ilse Wehrmann
Ilse Wehrmann ist Diplom-Sozialpädagogin und Erzieherin. Sie war bis 2007 Geschäftsführerin des Landesverbandes Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder in Bremen. Die Autorin zahlreicher Fachpublikationen ist heute als freie Beraterin im Bereich frühkindlicher Bildung tätig und begleitet derzeit unter anderem den Aufbau der betriebsnahen Kinderkrippen der Daimler AG.