"Heute nicht leben auf Kosten von morgen"
Im Blickpunkt-Interview: Klaus Hübner, Leiter des Referats Bildung für nachhaltige Entwicklung beim Landesbund für Vogelschutz in Bayern e. V. (LBV). Der LBV ist Träger eines Kindergartens, der ein integratives und nachhaltiges Konzept entwickelt hat. Klaus Hübner ist Mitglied des deutschen Nationalkomitees zur Begleitung der UN-Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung".
BIBER: Herr Hübner, manchmal möchte man sich fragen, ob "Nachhaltigkeit" nicht einfach nur ein Modewort ist. Umweltbildung hat es doch auch schon früher gegeben, Erzieherinnen und Erzieher sind doch immer schon mit Kindern in die Natur gegangen und haben versucht, ihnen Zusammenhänge klar zu machen. Hat sich überhaupt was geändert? Ist BNE etwas Neues?
Klaus Hübner: Ja, das ist etwas Neues. Früher hatten die Kinder einen anderen Hintergrund. Alle waren auf dem gleichen sprachlichen und kulturellen Stand, kannten beispielsweise die klare Gliederung des Jahres, wussten was Mondphasen sind, hatten ein natürliches Verhältnis zu ihrer Umwelt. Denen musste man nicht erklären, was Bio-Diversity, also was Artenvielfalt oder biologische Vielfalt ist. Sie wussten Löwenzahn von Hahnenfuß zu unterscheiden.
BIBER: Wann war dieses "früher"?
Klaus Hübner: Noch in den Fünfziger Jahren. Heute hat sich vieles komplett gewandelt. Heute können Sie alles jederzeit im Supermarkt kaufen. Wenn Sie im November Erdbeeren essen möchten, sind die zu bekommen. Selten macht sich jemand Gedanken über Transportwege, Dünger- und Pestizideinsatz oder unsoziale Arbeitsbedinungen. Unser jetziger Lebensstil geht einher mit gesellschaftlichen Verwerfungen, Ungerechtigkeit und Ressourcenverschwendung.
BIBER: BNE ist ein weites Feld, das viele Aspekte beinhaltet. Können Sie trotzdem versuchen, auf den Punkt zu bringen, was BNE für Sie bedeutet?
Klaus Hübner: Hier nicht leben auf Kosten der Menschen von woanders und heute nicht leben auf Kosten von morgen – das ist wohl die einfachste und einprägsamste Definition nachhaltiger Entwicklung.
BIBER: Warum sollten sich Erzieherinnen und Erzieher damit beschäftigen?
Klaus Hübner: Grundsätzlich deshalb, weil sie selbst für ihre eigene Person davon profitieren. Sie lernen viel, bekommen Klarheit zum Beispiel über ihre Orientierung in Raum und Zeit und überdenken ihren eigenen Lebensstil. Warum im Januar seinen Gästen Tomaten mit Mozzarella und Basilikum servieren? Im Sommer, wenn Tomaten auch bei uns wachsen, schmeckt das Gericht viel besser. Und die Transportwege sind wesentlich kürzer und die regionale Wertschöpfung wird gefördert.
BIBER: Und was haben die Kinder von BNE?
Klaus Hübner: Der Lernort Natur eignet sich hervorragend dazu, viele Kompetenzen zu erwerben. Besonders das Prinzip, Kinder in ihrer Persönlichkeit zu stärken und ihnen bei unterschiedlichen Bildungsgelegenheiten die Möglichkeit zu geben, ihre Kompetenzen weiter zu verbessern: Sie entwickeln ihre Motorik, sie schulen kommunikative und soziale Stärken, sie erwerben Gestaltungskompetenz. Sie gehen achtsam mit Tieren und Pflanzen um, sie gehen achtsam miteinander um, alle fühlen sich verantwortlich. Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechte, Solidarität – all dies lässt sich am Lernort Natur, aber auch in der Einrichtung, im Kindergartenalltag gut umsetzen.
BIBER: Das sind große Ziele. Wie sieht deren Umsetzung konkret im Kita-Alltag aus?
Klaus Hübner: Wir bieten beispielsweise in unserem Kindergarten ein Frühstück mit Regional-Buffet an. Dann gibt es einmal in der Woche einen Draußen-Tag: Dabei bestimmen die Kinder mit, wohin es geht. Die Kinder gehen fußläufig, also ohne beispielsweise den Bus zu nehmen, zu einer Wiese. Dort erleben sie, was man mit Löwenzahn alles machen kann. Er ist klebrig, so dass man sich Gänseblümchen damit anpappen kann. Man kann die Blüten mit Honig essen – köstlich: ein Vormittagsprogramm mit direkten ganzheitlichen Erfahrungen. Wissen Sie, es gibt Kinder, die überrascht es, dass ein Salat Wurzeln hat. Im Geschäft liegt der ja immer nur abgeschnitten da.
BIBER: Wird Ihrer Erfahrung nach die Beratungskompetenz der Erzieherinnen und Erzieher von den Eltern anerkannt? Kann man auch das Elternhaus einbinden?
Klaus Hübner: Die Erzieherinnen und Erzieher müssen Nachhaltigkeit vorleben. Die Eltern spüren, dass nichts aufgesetzt ist. Skeptische Eltern sind eingeladen, sich den Alltag im Kindergarten anzuschauen. Wenn sie möchten, können sie tagelang hospitieren – und sie sehen, wie Kinder in der Natur ihrem Entdeckergeist freien Lauf lassen. Ohne die Einbindung des Elternhauses funktioniert nachhaltige Bildung nicht. Und es ist ja auch nicht so, dass wir restriktiv handeln. Wir verbieten ja keine Milchschnitten. Allerdings sind wir auch so selbstbewusst und zeigen, dass wir die besseren Alternativen haben.
BIBER: Wenn die Kindergartenzeit vorbei ist, geht BNE dann in der Grundschule weiter?
Klaus Hübner: Das kommt natürlich immer auf die Grundschule an. Aber ich weiß von unserem ersten Jahrgang, der nun in der Grundschule ist, dass diese Kinder die dortige Lehrerin begeistert haben. Als sie die Kinder – wie immer zur Weihnachtszeit – danach fragte, wo die Klasse einen Adventskranz herbekommen soll, kam nicht die übliche Antwort "in diesem oder jenem Laden". Sondern die Kinder zählten auf: "Wir brauchen Weiden, wir brauchen Fichtenzweige, wie brauchen Bienenwachs und Dochte und wir basteln selbst die Dekoration." Zum Glück hat die Lehrerin entsprechend reagiert und gleich weitergemacht und gefragt, wer was besorgt und die Anregungen weitergeführt.
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| "Wie eine neue Brille" Inspiriert von ganz konkreten Fragen wird BNE im Kindergartenalltag des Montessori-Kinderhauses Bergedorf e.V. nicht nur theoretisch behandelt, sondern gelebt. |
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