StartInformieren
  
 
 
 
 

"Familiensprachen sind wichtige Bildungsressourcen"

Michaela Schmitt vom Verband binationaler Partnerschaften und Familien ist überzeugt: Kinder mit Migrationshintergrund brauchen nicht nur gute Deutschkenntnisse, sondern auch eine umfassende Förderung in ihren Familiensprachen.

BIBER: Frau Schmitt, Ihr Verband beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Mehrsprachigkeit. Warum setzen Sie sich dafür ein, dass Kinder mit Migrationshintergrund in ihren Familiensprachen gefördert werden?

Michaela Schmitt: Wir setzen uns aus verschiedenen Gründen dafür ein, dass die Familiensprachen von Kindern mit Migrationshintergrund anerkannt und gefördert werden. Die Sprachentwicklung von Kindern hängt sehr stark von Emotionen ab und vielen Eltern mit Migrationshintergrund liegt ihre Familiensprache sehr am Herzen. Sie ist untrennbar mit ihrem Leben und ihren Erfahrungen verbunden. Deshalb sollten sie diese Sprachen auch mit ihren Kindern sprechen. Das macht die Beziehung authentischer und stärkt die Bindung zur weiteren Familie. Wir möchten auch, dass die Familiensprachen von Kindern mit Migrationshintergrund in Institutionen wie Kitas und Schulen abgebildet werden. Wenn in einer öffentlichen Einrichtung die eigene Familiensprache gesprochen wird und das Personal diese Sprache wertschätzt, wird das von vielen Menschen mit Migrationshintergrund als Willkommenssignal wahrgenommen. Kinder spüren dann: "Alles was ich mitbringe ist wichtig und wertvoll."

BIBER: Man hört immer wieder, wie wichtig gute Deutschkenntnisse für die gesellschaftliche Teilhabe und die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind. Ist es nicht ein Schritt in die falsche Richtung, wenn die Kinder sogar in der Kita ihre Familiensprachen sprechen?

Schmitt: Tatsächlich existiert diese Sichtweise beispielsweise bei manchen Kommunalpolitikern. Sie meinen, wenn Kinder eine Sprache mehr sprächen, müssten sie die andere Sprache zwangsläufig weniger sprechen – als würde man das menschliche Gehirn wie ein Gefäß mit einer Flüssigkeit füllen, so dass kein Platz mehr für eine andere Flüssigkeit ist. Fachleute dagegen sind sich inzwischen darüber einig, dass das menschliche Gehirn völlig anders funktioniert. Es gibt beim Erlernen mehrerer Sprachen zahlreiche Überlappungen, Querverbindungen und Synergie-Effekte. Erkenntnisse aus einer Sprache können häufig auch in die andere Sprache übernommen werden. Wenn ein Kind beispielweise in einer Sprache verstanden hat, was das Gegenteil von etwas ist, hilft ihm das auch in der anderen Sprache.

BIBER: Aber die Förderung von Familiensprachen kostet auch Zeit und Geld. Sollte man diese Ressourcen nicht lieber in die Förderung der Deutschkenntnisse investieren?

Schmitt: Die Familiensprachen der Kinder stellen eine wichtige Bildungsressource dar. Seit Jahrzehnten stecken wir viel Zeit und Geld in den Fremdsprachenunterricht. Doch auch nach neun Jahren intensivem Englischunterricht sind viele Abiturienten nicht in der Lage, einen Workshop auf Englisch zu moderieren. Kinder mit Migrationshintergrund dagegen haben im Alter von fünf Jahren häufig schon eine sehr authentische Sprechweise in ihrer Familiensprache. Wenn diese Kinder in ihrer Sprachentwicklung gefördert werden, können sie in der Sprache bald auch einer Geschichte folgen und über den Alltagskontext hinaus Zusammenhänge darstellen. Dazu kommt: Mehrsprachige Kinder entwickeln oft insgesamt ein größeres Interesse an Sprache. Sie vergleichen Sprachen untereinander und stellen dann zum Beispiel fest, dass Inhalte nicht eins zu eins übertragen werden können. Ihnen fällt es auch oft leichter, noch weitere Sprachen zu lernen.

BIBER: Wofür braucht man Sprachen wie Türkisch oder Arabisch, wenn man in Deutschland lebt?

Schmitt: Einmal spielen diese Sprachen für die berufliche Zukunft der Kinder durchaus eine Rolle. Nach vierzig Jahren Migration sucht man paradoxerweise händeringend nach zweisprachigem Personal für die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen. Und auch im arabischsprachigen Raum erreicht man mit den ehemaligen Kolonialsprachen Englisch oder Französisch immer nur Teile der Bevölkerung, anders als mit Hocharabisch oder gar den Regionalsprachen. Wertvoll sind diese Sprachen aber natürlich nicht nur aufgrund ihres wirtschaftlichen Nutzens, sondern auch als Träger einer Kultur und kollektiver Erfahrungen. Von der Bedeutung von Sprache für die familiäre Bindung und das Wissen über die eigene Herkunft habe ich ja schon gesprochen. Obwohl uns nur das Mittelmeer voneinander trennt, scheinen zwischen Europa und den arabischen Ländern Welten zu liegen. Mehrsprachige haben große Chancen, diese unterschiedlichen Lebenswelten näher rücken zu lassen und können damit in einer globalisierten Welt positiv gesellschaftlich wirken.

Weiterlesen

>

Projekte aus der Kita- und Grundschulpraxis

Zurück

>

Erst- und Zweitsprache früh fördern